BEST PRACTICE

Ich will in Berlin bleiben

Michal Fatura

Als Michal Fatura gleich mehrere Stellenangebote der renommiertesten Werbeagenturen weit und breit bekommt, entscheidet er sich, nicht umzuziehen. „Berlin ist mein Zuhause“. Acht Jahre vorher war der Slowake hergekommen, um in einer großen deutschen Ballettkompanie zu tanzen. Seit kurzem, seit April 2015, ist er Junior Art Director. „Ich freue mich jeden Tag, zur Arbeit zu gehen.“ Er fängt dort von vorn an, von unten; bis zum Senior Director sind noch ein paar Stufen zu erklimmen. Hierarchien kennt er aus der Theaterwelt. Das sei einer seiner Pluspunkte, sagt er. Mit seinen dreißig Jahren hat er bereits eine Menge Erfahrung. Sie hat seine potenziellen neuen Arbeitgeber, die ihn zum Vorstellungsgespräch geladen hatten, beeindruckt: Der hat ja schon eine Karriere!

Hart erarbeitet. Mit zehn Jahren begann er in seiner Heimatstadt Žilina auf eigenen Wunsch mit Ballettunterricht in einer privaten Tanzschule. Als er vierzehn war, riet ihm die Lehrerin, aufs Konservatorium mit Internat in Košice zu wechseln. Er wollte eigentlich zum Wirtschaftsgymnasium, aber versuchte es mit Ballett, wurde sogar gleich in die zweite Klasse aufgenommen. „Das war zu viel, aber ich wollte es so sehr, dass ich es geschafft habe.“ Häufig hörte er, er habe zu spät mit Profiunterricht begonnen, um Ballett zum Beruf zu machen. Dieses „zu spät“ lässt den jungen Mann jahrelang an sich zweifeln, treibt ihn an zum Lernen, Trainieren, Arbeiten, „immer mehr, immer mehr“.

Er schaffte den Wechsel zur Ballettakademie in Bratislava. Abschlussnote 1. Danach wollte er weg, dahin, wo ihn niemand als „Späten“ kannte. Er bekam ein Engagement in Prag. „Eine Bestätigung“, sagt er, ein Ansporn, viel zu trainieren, auch sonntags, allein im Ballettsaal. Es waren gute Jahre, sagt Michal Fatura. Doch als bessere Rollen für ihn dran waren, musste er wegen einer Stressfraktur einige Wochen aussetzen; kurz danach fuhr er nach Berlin zu einer Audition, „Ich riskiere das“. Er wurde angenommen. Deutschland war sein Ziel gewesen, das Bayerische Staatsballett. Jetzt war es eben das Berliner.

Gruppentänzer zu sein, fand er in Ordnung, „weil ich so selbstkritisch bin“. Es lief gut. Bis ein gebrochener Fuß ihn ein halbes Jahr rauswarf. „Mein Leben war leer“, denn das Leben fand ja nur im Theater und unter Kollegen statt. Er begann, diese Ausschließlichkeit in Frage zu stellen. Bei der Rückkehr ins Ballett bekam er weniger anspruchsvolle Partien zu tanzen, das Repertoire veränderte sich, die Stimmung im Ensemble sackte. Er litt und fand keine Kraft zum Weggehen. Dann wurde sein Vertrag nicht verlängert. „Eine große Enttäuschung. Es tat weh, aber es war auch das Beste, was mir passieren konnte.“

Der 28-Jährige entschied: „Ich will in Berlin bleiben“. In eine andere Kompanie? Beim Friedrichstadtpalast schaffte er es ins Finale, gab dann die Hoffnung auf einen Ballettneuanfang auf und schaute sich anderweitig um. Er fragte einen Freund aus, der in der Werbebranche arbeitete. Das hörte sich gut an, denn schöne Dinge, das Optische und auch Humorvolle mochte Michal Fatura schon immer. Also sammelte er Tipps, suchte Schulen, fand eine Fashion Academy zu reglementiert und begeisterte sich für die internationale, bilinguale Miami Ad School in Berlin. Er bastelte eine Bewerbung, über die er heute lächelt, und fing zehn Tage nach dem Spielzeitende dort an.

Die zweijährige Schule war teuer. Mit der Berechtigung auf Umschulung wegen des Arbeitsunfalls, mit der ausgezahlten Abfindung von der Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen, der sogenannten ‚Bayerischen’, ein bisschen Geld von den Eltern, dazu die halbierte Miete, würde es klappen, dachte er. Doch die Beziehung, die Letzteres garantierte, hielt nicht, und mit der Agentur für Arbeit verhandelte er ein Jahr lang über die Ausbildung, da seine Schule nicht auf der Liste geförderter Institutionen stand und deren durchschnittliche Tageskosten angeblich zu hoch waren. Im fehlte zwar nur noch Geld fürs zweite Jahr, das Argument zog aber nicht. Er gab auf.

Ein Schulquartal setzte er aus. Um dann Arbeitslosengeld zu beziehen, fehlten ihm 20 Tage zu den erforderlichen 12 Monaten Arbeit während zweier Jahre. „So ein Pech!“ Bei der Stiftung Tanz war er einmal gewesen, aber er wusste ja, welche Ausbildung er wollte. „Ich habe nicht weit genug gedacht“. Jetzt ging er wieder hin. „Das ist meine letzte Chance.“ Er führte lange Gespräche und bekam finanzielle Unterstützung. Inzwischen jobbte er ab und zu beim Deutschen Fernsehballett. Weil er sich aus dem Bedürfnis nach Bewegung mit Sport fit gehalten hatte, war er schnell wieder in Form dafür. „Es war schön, wieder auf der Bühne zu stehen“. Dass es Spaß machte, fühlte sich neu an. Keine leichte Arbeit, kurze Probenzeiten und viel Reisen, aber er mochte die Atmosphäre.

Die Schule war für Fatura „ein 24/7-Studium“. Die Kommilitonen konnten schon mit bestimmten Computerprogrammen umgehen, er nicht. „Da kam wieder dieses: Ich will!“ Er lacht. Abendelang arbeitete er sich durch Aufgaben, für die er heute nur noch eine Stunde bräuchte. Nach dem ersten Jahr, in dem Creative Directors großer Agenturen in der Schule Unterricht gaben, folgten Praktika in Agenturen in Peking, Prag, Berlin, dann das Bewerbungsportfolio. Der Abschluss. Mit ihm könnte er in diversen Bereichen arbeiten, doch er wollte zuerst „den klassischen Weg gehen“ und bewarb sich bei großen Werbeagenturen. Mehrere wollten ihn. Also Berlin!

„Die Transformation vom Tänzer zum Art Director“, dafür stehe das Bewerbungsbuch, in das er Photos und Sätze einfügte darüber, was er aus seinem Ballettleben mitbringt in den nächsten Beruf. Seite eins: der Blick von einer leeren Bühne in einen Zuschauerraum. Etwas geht zu Ende. Auf der letzten Seite dasselbe Photo als Bildschirmschoner: „the new chapter starts now“. Dazwischen Statements über Disziplin, Selbstkritik, Teamarbeit. Fürs Thema Kreativität wählte er das Foto von Theaterperücken auf Holzköpfen. „About characters“, titelte er dazu. „Jede Marke, jeder Kunde hat einen anderen Charakter, es ist ganz unterschiedlich, was er jeweils braucht, welches Aussehen, und was für einen mood er ausdrücken will“, erklärt Fatura. „Wie beim Tanzen: In eine Rolle zu steigen, das hilft bei der Interpretation. Und bei der Kreativität.“

 

Immer auf der Suche

Immer auf der Suche

Luisa Sancho Escanero

Um ihr Masterstudium abzuschließen, hatte sie sich ein halbes Jahr freigeschaufelt, mit Unterstützung des Theaters, an dem sie als Tänzerin engagiert war: Das Gehalt für ein halbes Jahr Arbeit wurde über ein ganzes gestreckt, war dann wenig, kam aber regelmäßig. Kostbare Zeit, um sich mal nur der Theaterwissenschaft und dem Einfluss der europäischen Theateravantgarde auf die spanische neue Dramaturgie zu widmen. Darüber schreibt Luisa Sancho Escanero ihre Masterarbeit. Es kam dann anders, Plan geändert, Studium verlängert; denn attraktive Arbeitsangebote flatterten ihr ins Haus. Darunter ein großes: die Nachfolge der berühmten Forsythe-Company unter der Leitung des Choreografen Jacopo Godani mit vorzubereiten und zu gestalten als Künstlerische Koordinatorin/Referentin des Künstlerischen Direktors der neuen Dresden Frankfurt Dance Company.

Währenddessen sitzt sie in jeder freien Minute über Brecht, Arrabal, Beckett, Cage, über Tadeusz Kantor, Heiner Müller, Robert Wilson, über Semantik und Semiotik. Liest und schreibt. Sie absolviert ein Fernstudium an der Nationalen Fernuniversität von Spanien, UNED. Als sie am Staatstheater Mainz engagiert war, hatte sie nach Studiengängen gesucht. An einer deutschen Universität würde es wegen der Zugangsprüfungen für sie als Ausländerin zu lange dauern, stellte sie fest. Ein interessantes Programm fand sie in Barcelona, doch ist dessen Abschluss nicht europaweit anerkannt. Bei dem Fernstudium aber doch, und soeben war der Masterstudiengang in theoretischer und interkulturell vergleichender Theaterwissenschaft aufgelegt worden. „Wie für dich gemacht!“, sagten ihre Freunde.

Zunächst war Luisa Escanero skeptisch, wie so etwas online funktionieren würde. „Am Anfang fühlst du dich total allein“, nach einer Weile kam sie gut zurecht mit der Eigenverantwortlichkeit. Der Kontakt zu den Dozenten läuft gut. In ihrem Fach unterrichten ausgewiesene Spezialisten. „Da hatte ich Glück“. Sie studiert jetzt sogar noch Philosophie dazu. Gute Tipps zum Weg in die akademische Welt bekam sie von der promovierten Dramaturgin der (ehemaligen) Forsythe-Company, wo sie phasenweise per Gastvertrag arbeitete. Nach dem Master möchte sie auch promovieren und am liebsten in die Forschung gehen; diese anstrengenden Studienjahre, „schön, aber viel Arbeit, halleluja“, haben den Wunsch nach mehr geweckt.

„Ich wollte nie Assistentin eines Choreografen werden. Nein!“. In der Rolle sah sie sich einfach nicht. Aber Godani war der Richtige für ein „Ja“, sagt sie. Die zwei sind befreundet, sie führten schon, als sie noch Tänzerin war, lange Gespräche, und sie studiert seit einiger Zeit seine Werke bei Kompanien in aller Welt ein. Er bat sie nun um Mitarbeit, „im Studio und draußen“, an seinen Ideen für künstlerische Projekte. Aus dem Studium kann sie Themen einbringen, denn bei der konzeptionell-dramaturgischen Tätigkeit geht es auch um die sprachliche Vermittlung dessen, was der Choreograf im Ballettsaal erschafft, in seinem „Laboratorium“, wie sie es nennt.

Als Luisa Escanero ihre Ballettausbildung abschloss, hatte sie nicht einmal Abitur. „Geht hinaus in die Welt.“, riet ihre berühmte Lehrerin María de Avila in Zaragoza den Absolventen. Das tat die junge Tänzerin. Als sie später mal zwei Jahre lang in Spanien arbeitete, holte sie in sechs Monaten die Abiturprüfungen nach, gemäß einem speziellen Programm für Berufstätige über 25. Sie war 26 und probierte gleich das Studieren aus: Anglistik. „Ich war überrascht. Wow, das geht ja“. Sie habe immer viel gelesen. Dazu kam, ums Jahr 2000 herum, als künstlerische Studiengänge den anderen angepasst wurden und den Hochschulen plötzlich Lehrer fehlten, dass die alte siebenjährige Ballettausbildung als adäquat anerkannt wurde. Luisa Escanero legte dann als erste Tänzerin in Spanien eine Prüfung ab, die, kombiniert mit ihrer Berufserfahrung, als Studienabschluss und Lehrbefähigung galt. Als sie 2010, mit 35 Jahren, das Masterstudium begann, war ihre Überlegung: „Ich kann noch etwa fünf Jahre tanzen, aber ich glaube, ich möchte weiter studieren.“

Doch im Jahr 2011 erhöhte die neue Regierung in Spanien die Studiengebühren um 70 Prozent. Dafür reichte ihr Mainzer Gehalt nicht mehr. Für spanische Stipendien, recherchierte sie, war sie zu alt und zu berufstätig. In Deutschland fand sie die Stiftung TANZ. Eine Freundin half ihr mit den Belegen, Bescheinigungen, Rechnungen für den Stipendiumsantrag. Dreimal insgesamt bekam sie die Unterstützung von der Stiftung. „Das war die Lösung, genau der richtige Tropfen im richtigen Moment“. Selber aktiv sein, nicht erwarten, dass jemand anderes für einen den Weg findet, das sei seit jeher ihre Losung, sagt Luisa Sancho Escanero. Nicht klein beigeben. „Es war kein ruhiger Übergang“, aber sie wolle nicht jammern: „Es war ja meine Entscheidung“.

Sie kennt Kollegen und Kolleginnen, die 15 bis 20 Jahre in derselben Kompanie bleiben. Anders als diese ist sie neue Schritte gewohnt. „Ich habe in zehn Kompanien in acht Ländern in Europa getanzt, daneben auch in freien Projekten“. Leeds, Biarritz, Zürich, Berlin, Madrid, Arnheim, Köln, Mainz. „Ich weiß, ich habe Handwerk, Technik war nie ein Problem“. Doch an einem Haus die Hierarchiestufen hochzuklettern, war von Anfang an nicht ihr Ding, und „das Drumherum“ in den Institutionen setzte ihr zu, der Umgangston. „Ich war immer auf der Suche“, fasst sie die Wechsel zusammen, „nach jemandem oder etwas“. Ein Gefühl, dass es „etwas anderes“ sein sollte oder etwas, das sie sich selber gern auf der Bühne anschauen würde. Diese vielen Schritte auf ihrem Karriereweg möchte sie letztlich auch nicht missen: „Das hält einen am Leben, sich selber neuen Situationen auszusetzen“.

Etwas vom Alten, Gewohnten nimmt sie sich dabei jetzt wieder zur Hilfe: das tägliche Balletttraining. Das habe sie in dem Jahr nach dem Mainzer Engagement vermisst. Die wichtige Tänzereigenschaft, die sie in die nächste Lebensphase mitbringt, nennt sie „stubbornness“, Hartnäckigkeit, dazu „Disziplin, viel Disziplin“. Es gebe da etwas in der Mentalität von Tänzern und Choreografen im Umgang mit Prozessen: nicht aufzuhören, bei der Kreation, beim Suchen oder Üben, bis etwas vollendet ist, „determination“.

 

Versuchung

Versuchung

Hans-Georg Lenhart

Für den Tanz entdeckt wurde der dreizehnjährige Hans-Georg auf einer Disco-Tanzfläche von seiner eigenen Mutter. Sie sah, wie ihr Sohn sich kreativ und frei zur Musik bewegte und ermunterte ihn, doch mal in den Jazzgymnastikkurs der Volkshochschule mitzukommen. „Da war ich der einzige Teenager unter lauter Hausfrauen“. Diese VHS in Duisburg samt ihrer internationalen Tanzworkshops in den Ferien „war mein Tor zur Tanzwelt“, zum Modernen Tanz, sagt Hans-Georg Lenhart heute. Dreißig Jahre später schob er das Tor langsam wieder zu und öffnete gleichzeitig neue.

Nach der Mittleren Reife hatte er damals nur ungefähre Berufswünsche. Seine Tanzlehrerin, ausgebildet an der Folkwanghochschule in Essen, riet ihm, dort vorzutanzen. Mit siebzehn bestand er die Aufnahmeprüfung und hatte keine große Vorstellung davon, was darauf folgen würde. Es packte ihn: „Ich war auf dem Tanztrip“. Schon während des dritten Studienjahres durfte er beim Wuppertaler Tanztheater in „Das Frühlingsopfer / Le Sacre du Printemps“ von Pina Bausch mittanzen. Eine Ehre und „einzigartige Erfahrung“. Inspirierend fand er auch seine Lehrer und eine Menge Mitstudenten, Tänzer wie Rainer Behr, Christiana Morganti, Bernd Marszan, Ruth Amarante und spätere Choreographen wie Urs Dietrich, Livia Patrizi, Gregor Zöllig, Joachim Schlömer. Nach dem Abschluss 1989 ging er nach Brüssel, tanzte dort zwei Jahre projektweise bei der Mark Morris Dance Group an der Oper La Monnaie und in freien Projekten, auch in denen von Schlömer. Als dieser die Leitung der Tanzsparte am Theater Ulm übernahm, ging Lenhart mit.

Sie lösten dort, wie danach in Weimar, das Ballett am Haus ab. Mit Tanztheater. „Wir haben extrem viel gearbeitet, bis zu fünf abendfüllende Uraufführungen in einer Saison, und es hat irrsinnig viel Spaß gemacht“. Er wechselte auch mit nach Basel, doch das freundschaftliche und beruflich enge Verhältnis zu dem Choreografen war abgekühlt. In Amsterdam, seinem neuen Standort, lief ihm der Regisseur Peter Sellars über den Weg, den er aus seiner Zeit mit Mark Morris kannte. Vor Jahren hatte Lenhart sich über dessen Zauberflöten-Inszenierung kritisch geäußert, woraufhin Sellars ihm stundenlang die widrigen Umstände der Arbeit erläuterte. „Dies war der Beginn einer langen Freundschaft“. Jetzt lud Sellars ihn ein, bei seinem Strawinsky-Abend „Biblical Pieces“ für das Holland-Festival 1999 mitzumachen.

Neben Engagements in freien Produktionen in den Niederlanden und in Deutschland choreografierte Hans-Georg Lenhart eigene Stücke. Er fand die Arbeit zäh und verzweifelte an der Aufgabe Produzent, Manager und Künstler gleichzeitig sein zu müssen. „Nicht meins“. Er könne am besten aus der zweiten Reihe jemandem zuarbeiten, sagt er. 2001 zog er aus privaten Gründen weiter nach Südfrankreich, verdiente mit Tangounterricht und einer Milonga etwas Geld und pendelte zu Kurzengagements nach Deutschland und England. Auch zu Peter Sellars‘ „Idomeneo“ in Glyndebourne 2003. Mark Morris choreografierte, Dirigent war Sir Simon Rattle. Der gab dem Tänzer Lenhart auf der Bühne das Gefühl zu fliegen: „Ich hatte das Gefühl von grenzenloser tänzerischer Freiheit, Rattle folgte mir, fing mich auf, war immer da.“ Einige Tage später brach ihm bei einem Motorradunfall der Knöchel. Das Ende vom Tanz?

Nein. Er tanzte weiter, aber „das war Murks.“ Eine grundsätzlich Entscheidung stand an, die aber brauchte Zeit und eine Rückkehr nach Deutschland. 2006 zog Lenhart nach Berlin, fasste aber kaum Fuß in der Tanzszene. „Der Körper war angeschlagen, irgendwann wollte der Kopf auch nicht mehr“. Er überlegte, wie seine zweite Karriere aussehen könnte. „Ich bin ja nur Tänzer, sonst kann ich nix.“ Von der Blockade musste er sich lösen. Mit dem Schmerzensgeld, das die Versicherung nach dem Unfall zahlte, machte er eine Massageausbildung. Das Massieren machte ihm Freude. „In der Ausbildung habe ich meine Vorteile ausgespielt: Ich kann gut abschauen, Leute nachmachen, kann mir Sequenzen merken, habe keine Angst vor Kontakt.“ Lenhart arbeitet seitdem als freiberuflicher Masseur in einem Health-Club.

Er dachte bald, „ich mache ja nur Wellness, aber ich will mehr“, nämlich helfen. Doch er schreckte vor der berüchtigt schwierigen Heilpraktiker-Amtsarztprüfung und dem vielen Lernen zurück, denn die Schulzeit war lange her. Erst als eine Tänzerin ihm sagte: „Etwas Neues lernen, das ist doch nicht viel anders, als jeden Tag an der Stange zu stehen: offen bleiben, sich immer wieder überprüfen“. Da meldete er sich bei einer Schule an, schaffte ein Jahr später die Prüfung beim Amtsarzt und konnte sich nun, als Heilpraktiker, bei der Osteopathieschule Deutschland einschreiben. Osteopathie faszinierte ihn, seit er in seinem ersten Folkwang-Studienjahr eine nachdrückliche Erfahrung mit einem Osteopathen gemacht hatte. Später begleitete sie ihn durch seine gesamte Karriere.

Das vierjährige Teilzeit-Bachelor-Studium in Berlin kostet aber Geld; er klopfte also bei der Stiftung Tanz an. Sie wies ihn hin auf die Käthe Dorsch Stiftung, die ihm eine einmalige Unterstützung gewährte. Ein wenig später fand er ein weiteres Stipendium, das ihn seit seinem zweiten Studienjahr unterstützt. Von der Stiftung Tanz konnte er, als er Vater wurde und die Verlängerung seiner Unterstützung unsicher war, ein einmaliges Stipendium bekommen. Seinen Bachelor hat er demnächst abgeschlossen; der Master folgt noch. 2017 wird Lenhart fertig sein, „dann bin ich 50, das passt doch“. All das bewältigt er momentan neben der Arbeit im Fitnesscenter. Um flexiblere Behandlungszeiten vereinbaren zu können, hat er sich zusätzlich in einer Naturheilpraxis eingemietet.

Seit 2010 ist er außerdem Regieassistent bei Peter Sellars für Inszenierungen mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle. Es begann mit der „Matthäuspassion“. Als Sellars ihn auch auf der Bühne besetzen wollte, als Christus, sagte er Nein. „The last temptation of Hans-Georg Lenhart“, lacht er. In der Theaterarbeit die Seite zu wechseln war ein logischer Entwicklungsschritt. Den Tanz vermisse er gar nicht, ebensowenig, sich Stücke anzusehen. „Was ich geliebt habe, war nicht nur der Arbeitsprozess, sondern vor allem das gemeinsame Tanzen, wenn Tanz und Musik verschmelzen, dieser besondere Moment, wenn alles Eins wird.“ Wo bleibt diese Liebe in dem neuen Beruf? „Ein Osteopath ist nicht alleine, er hat immer ein Gegenüber; das Gewebe des Patienten, mit dem man arbeitet und in gewisser Hinsicht auch tanzt.“

 

 

Wir haben viel erlebt

Wir haben viel erlebt

Fione Rettenberger

Die Haupt- und Nebenfächer ihres Bachelors sortiert sie nach den ersten Semestern noch einmal um, da sie gemerkt hat, was ihren Neigungen eher entspricht, nämlich die Philologien und die Komparatistik mit ihrem internationalen und interdisziplinären Touch. Fione Rettenberger studiert an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Die Dreißigjährige sagt: „Das ist meine Zeit, das Studium“. Der Weg bis dahin, bis sie sich einschreiben durfte, war hart. Jetzt steckt sie ihre ganze Energie und Zeit ins Lernen, was sich für sie wie Freiheit anfühle.

Das Bedürfnis nach Ablenkung oder Faulenzen habe sie da auch gar nicht. Sie genießt es, sich in die unterschiedlichen Themen einzuarbeiten. Disziplin und Fokus sind ihr als Tänzerin ja bestens vertraut. Sie achte auch darauf, sich nicht nur auf die Klausuren hin den Pflichtlernstoff anzueignen, sondern sorgfältig und intensiv in die jeweilige Materie einzusteigen, so dass das Wissen für späteren Gebrauch zur Verfügung stehen wird. Das ist die Perspektive, die sie aus ihrer bisherigen Berufserfahrung mitbringt.

Auch etwas anderes brachte sie von früher mit: dass sie bestimmte klassische Ballett-Kompositionen Ton für Ton kennt, „ich habe sie tausendmal auf der Bühne erlebt, gefühlt“. Das hatte sie dem Dozenten der Musikwissenschaft voraus. Neu war ihr dann, harmonische Strukturen und Bauprinzipien der Stücke erklärt zu bekommen. Da bekam sie ihr „Schweizer-Käse-Prinzip“ bestätigt, das Empfinden, mit dem Studium ihre „Löcher“ zu stopfen, so dass sich ihr ein – immer faszinierenderes – Gesamtbild von der Welt erschließe.

Durch ihr Elternhaus in Stuttgart ist ihr das Akademische vertraut. Lesen, Dinge durchdenken, Schreiben. Als Fünfzehnjährige beschloss sie, Tänzerin zu werden, zog aus, ließ sich in Mannheim, London und Hamburg ausbilden, hatte mit zwanzig ihr erstes Engagement. Als sie aber nach sieben Jahren im Beruf an die Universität gehen wollte, zählte ihr Ballettabschluss im akademischen System nichts. Davor hatten die Tanzpädagogen den Teenager nicht gewarnt. Gegen Ende ihrer letzten Anstellung als Tänzerin, am Staatstheater Wiesbaden, absolvierte sie deshalb als Ergänzung ein zweijähriges sozialwissenschaftliches Bachelor-Fernstudium an einer Londoner Universität. Dem trauten die deutschen Behörden aber nicht. Fione Rettenberger erinnert sich ungern an die Kämpfe um die Studienzulassung. Am Telefon wurde sie verlacht, erzählt sie bitter, „haha, Sie wollen studieren?“ oder sie solle sich doch mit einem Sportstudium begnügen. In einzelnen Bundesländern musste sie Studienzulassungsprüfungen machen, in Gesprächen mit Fachstudienberatern endlich stieß sie auf Verständnis. Bei ihrer ersten Klausur an der Uni fehlte ihr nur ein halber Punkt zur maximalen Punktzahl. „Darauf bin ich ein bisschen stolz. Geht doch!“

Nach Plänen und Interessen für die Zeit nach dem Tänzerberuf hat sie früher ihre Kollegen ab und zu befragt. „Tänzer gehen ja mit offenen Augen durchs Leben, sind beobachtende Menschen“. Aber übers Berufsende sprechen sie nicht freiwillig. Wer rede schon vom eigenen Tod, vergleicht sie kühn. Ihr selber fiel der Abschied auch nicht leicht. Ende 2010 erlitt sie einen schweren Autounfall, schaffte aber den Weg zurück in den Ballettsaal und auf die Bühne. Ein halbes Jahr später hing eine Workshopankündigung der Stiftung TANZ im Theater aus; mit einem Kollegen fuhr sie heimlich, für einen „Urlaubs“-Tag, nach Berlin. Ihr gefiel die Offenheit, über Möglichkeiten nachzudenken und behielt auch die Informationen zu Bafög-Altersgrenzen im Kopf: dreißig fürs Erststudium. Als Heike Scharpff in Wiesbaden in der Zeit des bevorstehenden Intendanten- und Choreografenwechsels einen Info-Vortrag hielt, traf sich die Tänzerin mit ihr anschließend in der Kantine. „Das Schlüsselgespräch“ nennt sie es heute, als sie der Psychologin erzählte, dass zu den körperlichen Schmerzen nach dem Unfall auch die seelischen kamen, sich als Tänzerin angreifbar zu fühlen. Die Antwort: Aufhören. Sie war ihr „Befreiungsschlag“. An sie hatte sie sich vorher nicht herangetraut, identifizierte sie sich doch mit dem Beruf; „er ist ein Lebensinhalt“, kein Job, um bloß die Miete zu zahlen, sagt sie, „auch wenn es vielleicht nach Floskel klingt“.

Auf die Ermutigung des Workshops hin, mit offenen Augen rechts und links von Ballettsaal und Bühne zu schauen, was es noch so gibt, machte Fione Rettenberger nach dem Auslaufen ihres Vertrags Praktika. Zunächst in Wiesbaden, im Ballettbetriebsbüro, dann in der Dramaturgie, wo sie für ein Sonderprojekt Texte fürs Programmheft schrieb und den choreografisch-gedanklichen Hintergrund ihres ehemaligen Chefs Stephan Thoss verstehen lernte, „ein riesengroßes Geschenk“. Nach sechs Wochen beim Schleswig-Holstein-Musikfestival wollte man sie in der dortigen Dramaturgieabteilung gleich dabehalten. Aber sie wollte studieren, den Horizont im Kopf erweitern, ein „Mehr“, aus dem sie später schöpfen könnte. Eine Festival-Kollegin riet ihr noch vom Fach Kulturwissenschaft ab, praktikabler sei Musikwissenschaft. Inzwischen hält sie, nach Gesprächen mit Nachbarn, die Entwicklungshelfer sind, einen Berufsweg ins internationale Feld nach dem Studium für möglich.

Die Zufälle. Mit dem Wunsch nach Bewegung, den ihr Laufen, Schwimmen, Pilates nicht optimal erfüllten, landete sie in Tübingen in einem privaten Tanzstudio, „ein bisschen mittrainieren“. Dessen Leiterin heuerte sie gleich als Ballettlehrerin an. Was sie nie werden wollte! Aber jetzt: „Ich wusste nicht, dass ich das Tanzen so liebe und dass ich es auch so gern unterrichte“. Gerade die jungen Erwachsenen. Ihr wiederum hilft der Nebenjob, das unangenehme Gefühl des „Anfängertums“, des Niemandseins, der Verlorenheit im Studium zu relativieren, indem sie sich als Expertin für etwas erweist. Sie tanzte sogar, trotz anfänglichen Zögerns, wieder öffentlich, bei einem kleinen Konzert mit Gregorianischen Chorälen. „Das war cool“. Sie lacht. „Es ist nicht alles vorbei, wenn man sagt, es ist vorbei“, so würden sogar ein paar alte Wunden heilen.

Als Thema für ihren englischen Studienabschluss hatte Fione Rettenberger damals die Tänzer-Transition gewählt, hatte Bekannte interviewt und viel gelesen. Damals stieß sie auf das Buch „Wir haben viel erlebt“ mit einer Ballettmeisterin, Jahrgang 1924, auf dem Cover.  Ältere Menschen nach ihrer Lebenserfahrung zu befragen, kam ihr damals als Idee, und sie erinnerte sich an eine ihrer Ballettlehrerinnen. Die hatte die murrenden 18-Jährigen in Konzerte und Museen geschleppt mit der Ansage „Es gibt nicht nur Tanz!“ Ihre ehemalige Schülerin reiste am Ende ihrer Tänzerinnenkarriere nach Hamburg und bedankte sich bei ihr.