Psychologische Aspekte der Transition, Teil 13 Grenzen & Abhängigkeiten
Jede Kunstform hat ihre Gestaltungsmittel. Bildende Künstler gestalten das außerhalb ihrer selbst liegende Material, verwandeln dieses durch komplexe Prozesse zu einem Kunstwerk. In den darstellenden Künsten, hier insbesondere beim Tanz arbeiten Menschen miteinander... Choreograph*innen, Tänzer*innen, Bühnenbildner*innen, Musiker*innen usw. Die jeweils auf der Bühne befindlichen Partner*innen der künstlerischen Zusammenarbeit, im hier betrachteten Fall die Tänzer*innen, stellen ihren individuellen Körper & ihre Persönlichkeit als "Gestaltungsmaterial" zur Verfügung. Diese Konstellation bringt mannigfaltige Herausforderungen mit sich.
Je nach künstlerischem Ansatz werden die Tänzer*innen mehr oder weniger stark in den Prozess der Kreation einbezogen, werden mehr oder weniger als Gesamtpersönlichkeiten oder lediglich als 'sich-bewegender Körper' im Prozess wahrgenommen. In jedem Fall wird von Tänzer*innen ein großes Vertrauen in die Vision des "Outside eye", des*r Choreograph*in erwartet. Die Grenze zwischen "sich einlassen" und "sich ausliefern" scheint zuweilen haarscharf. Besonders sensibel ist die Beziehung zwischen Choreograph*in & Tänzer*in außerdem, weil Tänzer*innen häufig schon als Minderjährige ihre proffessionelle Arbeitsbeziehungen beginnen. Die Gefahr von Eltern-Projektionen und entstehender Abhängigkeit ist enorm.
Ballettdirektor*innen und Choreograph*innen tragen eine nicht gering zu schätzende Verantwortung für diese Arbeitsbeziehung. Sie sollten sich regelmäßig bewusst machen, dass Tänzer*innen als Gesamtpersönlichkeiten im Ballettsaal und auf der Bühne stehen. Menschen haben körperliche wie psychische Grenzen sowie ein Recht auf Intimität. Menschen haben das Recht, Teile ihrer Person und Persönlichkeit nicht in den Arbeitsprozess einzubringen. Für Tänzer*innen ergibt sich umgekehrt die Verantwortung, ihre Grenzen wahrzunehmen und zu formulieren. Dies kann ihnen niemand abnehmen. Eine vertrauensvolle Beziehung sollte aber das Recht beinhalten, Grenzen zu formulieren. Andernfalls ist die Gefahr von Grenzüberschreitungen groß, die zu Verletzungen, Traumata und pathologischen Abhängigkeiten führen können. In diesen Fällen sollten Tänzer*innen sich unbedingt Hilfe beim Betriebsrat, bei der Gewerkschaft oder dem deutschen Bühnenverein suchen:
http://www.buehnenverein.de/de/presse/pressemeldungen.html?det=491
In der Transition-Zeit wird häufig die eigene Tanzkarriere auch in Hinsicht auf die erlebten Arbeitsbeziehungen reflektiert. Grenzüberschreitungen, die in der Vergangenheit liegen, kommen in Erinnerung und rufen erneut Schmerz hervor. Es besteht die Gefahr, in Selbstvorwürfe zu verfallen, dass man sich gewisse Dinge hat gefallen lassen, dass man keine Grenze gesetzt hat. Selbstvorwürfe sind Formen von Selbstverletzung, die weitere Schmerzen kreieren. Auch in diesen Fällen sollte sich der Betroffene psychologische Unterstützung suchen. Die Stiftung TANZ steht als Ansprechpartner mit kostenfreier Beratung zur Verfügung.
Text von: Heike Scharpff
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